Ich schreibe von nun an aus Kanada. Die Reise über den Atlantik und alles, was damit zusammenhängt, haben die versuchte Regelmäßigkeit meiner Veröffentlichungen hier einmal mehr verschleppt. Wir haben mittlerweile Halloween. Die Häuser sind geschmückt und die Faszination an der skurrilen Maskerade, die in Deutschland allein der Karneval in diesem Ausmaß zu entfachen vermag, ist hier omnipräsentes kommerzielles Brauchtum.
Ich blicke darauf, ähnlich wie auch auf den Karneval in Deutschland, mit einer kopfschüttelnden Faszination. Es ist so trivial, die Begeisterung für das Fest aber jedes Jahr aufs Neue überwältigend abstrus: schamloser Konsum, zuckergetriebene Aufgeregtheit, kindliches Vergnügen an der Tradition um der Tradition Willen, ohne einen Versuch zu unternehmen, dem ganzen Spektakel tiefere kulturelle Bedeutung beizumessen. It’s fun, so let’s do it next year again. Same date, same time.
Allerdings macht mir mein so weltoffenes und herzlich-klischeehaftes Kanada Sorgen, scheint es an Tagen wie diesen seine triviale Leichtigkeit zu verlieren, so wie sie auch andernorts verloren geht. Das vermeintlich unschuldige Spiel mit der Maskerade, ob Grusel oder Kuriosität, hat sich allem Anschein nach wie nahezu alles in der Welt verkompliziert oder ist auf dem besten Weg Wissenschaft und Politikum zu werden. Es scheint seit einigen Jahren eine neue journalistische Tradition zu sein, anlässlich von Halloween nicht mehr oberflächliche Stilkritik zu üben, sondern vielmehr tiefgreifende ethische Kritik:
»Here in Canada, many people like to use indigenous costumes. […] But people don’t understand what they’re wearing and why. There’s a meaning to everything, and [fancy dress outfits] are put together in the wrong way. You don’t understand or respect the elements and culture at hand.«
Dr. Sandrine Han, Independent Researcher gegenüber Yahoo!
»[…] Some people still seem to have a really hard time understanding that culture is not costume, refusing to believe it may actually cause harm.«
Meera Estrada, Global News
Halloween hat seine Unschuld verloren, vielleicht wurde ihm die Unschuld auch geraubt. Es geht auf einmal um Schaden, Verletzungen, Ignoranz – die Frage ist nur: Inwieweit das notwendig war, und inwieweit einfach grotesk unnötig und überzogen. Der Kampfbegriff: Cultural Appropriation.
Was meint Cultural Appropration?
Die deutsche Übersetzung ist in diesem Fall schon sehr aussagekräftig: Es geht um kulturelle Aneignung. Wie jeder Kampfbegriff ist er in erster Linie erstmal prädestiniert dafür, entfremdet zu werden, weil er vielfältig entfalt- und auslegbar ist. Seine häufigste Auslegung stammt aus Susan Scafidis Buch Who Owns Culture? Appropriation and Authenticity in American Law (2005) besagt im Kern: Innerhalb eines Machtgefälles eignet (appropriate) sich eine privilegierte dominierende Kultur freimütig Elemente einer anderen, weniger privilegierten, diskriminierten Kultur ohne explizites Einverständnis zum eigenen Vorteil und Profit an.
Nur: Was heißt es zu profitieren? Gilt das eigene Vergnügen, Freude und die kindliche Faszination schon als Profit? Könnte man meinen, wenn über Verkleidungen zu Halloween in Nordamerika gestritten wird. Beziehungsweise: Es wird weniger gestritten, selten verhandelt, es wird aus dem Gefühl heraus definiert und verkündet, was akzeptabel sei und was nicht, weil das Fest, was vorher ein kopfloser Spaß war, um den Konsum anzukurbeln, nun erbarmungslos durchakademisiert werden muss:
»Everyone, especially those from privileged groups, needs to step up and do their own research. In our age of endless online resources, everyone can find out what is appropriate and what is not.«
Beth Washburn, Humber College Toronto gegenüber Global News
Die Linie für diejenigen, die argumentieren, mit ihrer Kostümierung der Kultur gegenüber sogar Respekt zu zollen – also cultural appreciation – wir so unkenntlich gezogen, dass sie nur übertreten werden kann:
»The appreciation of a culture demonstrates a degree of respect, as well as the act of wanting to learn and further your understanding about its peoples and traditions. Appreciation indicates a willingness to broaden your perspectives rather than reducing a culture down to offensive caricatures and stereotypes.«
Jenzelle Salazar, The Gauntlet
Bei aller Akademisierung einer Kostümparty werden die wesentlichen Fragen in solchen Einlassungen stets ignoriert oder ihre Antwort vorausgesetzt, um das muntere Empören und Canceln unwidersprochen zu vollziehen: Seit wann spielt Macht eine Rolle bei so etwas in seinem Ursprung Harmlosem wie eine Mimikry? Braucht es in einer selbsterklärt liberalen pluralen Gesellschaft immer ein Einverständnis, um Kultur, Musik, Kleidung zu interpretieren und vorzuführen? Oder sollte Kultur nach der Logik überhaupt öffentlich zugänglich sein oder nur in exklusiven Räumen wenigen vorbehalten sein?
Wer einen akademischen Diskurs eröffnet, der muss ihn auch führen wollen
Bei der Betrachtung dieser Einlassungen, wird nach meinem Empfinden über diese Fragen und viele weitere nonchalant hinweggegangen wird. Die Debatte bleibt exklusiv, die eigene Ethik wird zum Diktat.
Das ist sehr enttäuschend, zumal ich in Kanada die Sensibilität gegenüber den Nachfahren indigener Völker durchaus nachvollziehen kann, auch wenn die Konsequenz des canceln dadurch nicht richtiger wird: Anders als in Deutschland, wo in der Regel allein auf Basis von Karl-May-Märchenverfilmungen aus den 60er-Jahren und dem angelesenen Grundwissen einiger weniger weißer privilegierter Hochschulaktivisten problematisiert wird, ist das Verhältnis zu den ersten Bewohnern des Kontinents unmittelbarer und das Unrecht ihnen gegenüber wird immer deutlicher im nationalen Bewusstsein eingraviert.
In Kanada leben noch heute Nachfahren der ersten Stämme, die den Subkontinent lange vor der Ankunft europäischer Siedler im 17. Jahrhundert bevölkerten. In den nördlichen Territorien jenseits des Polarkreises werden ganze Gemeinden von den Hinterbliebenen der nördlichen Inuit-Stämmen gehalten. Reale Horror-Geschichten wie der Fund eines Massengrabs mit den Kinderleichen indigener Schülerinnen und Schüler sogenannter boarding schools – wohin Kinder indigener Eltern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verschleppt wurden, um in missionarischem Eifer und mit brutalen Methoden zur christlichen, westeuropäischen Kultur »erzogen« werden sollten – legen diese unbestreitbaren dunklen Flecken kanadischer Geschichte offen.
In dem Punkt kann ich es verstehen, dass darüber diskutiert werden muss, ob in diesem Land die kitschige Nachahmung eines Indianerhäuptlings im Stile eines Pierre Brice so angemessen erscheint.
Mein wesentliches Problem ist eher: Diese Debatten verlagern sich auf banale Schlachtfelder wie Halloween. Es wird so leichtfertig mit absoluten Begriffen wie Ausbeutung, Diebstahl, Verletzung auf der einen, mit schwammigen Vokabeln wie Wertschätzung, Bewunderung, Humor auf der anderen Seite hantiert, beschuldigt oder beschönigt, je nach Perspektive. Es ist dieser unterkomplexe Status, diese eingefahrene Konstellation in dieser nicht unwichtigen Debatte, die sie für mich bisher für mich sehr unattraktiv machte, um mich daran zu beteiligen.
Umso dankbarer bin ich heute für meine Reiselektüre …
Eine »Ethik der Appropriation«
Jens Balzer versucht mit seinem Essay für den Begriff Cultural Appropriation eine ein Vermittlungsangebot innerhalb des argumentativen Stand-offs zu unterbreiten. Auch er bemängelt:
»Die Debatte […] kreist um Kritik und Untersagung.«
Jens Balzer
Für die einen sei es nicht weniger als ein Verbrechen, sie folgen der Auslegung von Susan Scafidi. Für die anderen hingegen sei es Ausdruck eines harmlosen, eher humorvollen und bewundernden Spiels mit dem Fremden, mit Identitäten und Kulturen. Treffen diese beiden Blickwinkel aufeinander scheinen beide auf das Rechthaben zu schielen, nicht aber auf ein Verständnis oder aber einen Kompromiss im Umgang mit fremden Kulturen, sozusagen eine richtige Form der Appropriation. Aus beiden Blickwinkeln kann die jeweils andere Seite nur falsch liegen.
Ein Stand-off der Irrtümer
Balzer versucht es trotzdem, diese Aushandlung einer gemeinsamen »Ethik der Appropriation« zu organisieren. Ungeachtet der Widerstände, wohl aber unter Berücksichtigung der jeweiligen Schwachstellen beider Perspektiven: Während nämlich die einen vermeintlich moralisch integer und sensibel, die Aneignung fremden kulturellen Erbes (ganz im Sinne von Scafidi) kompromisslos untersagen wollen, weil sie darin einen Rechtsbruch eines (noch) ungeschriebenen Gesetzes sehen, wittern die anderen darin den Versuch, sie im Auftrag falscher political correctness mundtot machen zu wollen und glauben das Problem dadurch zu lösen, indem sie »alles erlauben, oder anders gesagt: indem sie alle Verbote verbieten.« Das Problem in beide Argumentationen bringt Balzer in einem einfachen wie schon teilerlösenden Satz auf den Punkt:
»Kultur ist Aneignung.«
Denn was diese simple Feststellung (dass es sich nicht um eine These handelt, legt Balzer in der Folge eindrücklich dar) offenlegt, ist für die Fronten ein geteilter Irrtum, tatsächlich aber ein Lösungsweg: Die Einigung auf diese Tatsache erfordert gleichermaßen Verständnis für die jeweils eigene Fehlbarkeit in der Argumentation.
Den tapferen Kämpfern gegen ein vermeintliches Sprechverbot im Namen der wokeness muss umso deutlicher vor Augen geführt werden: Kulturen wurden in der Vergangenheit zugunsten weißer Eroberer ausgebeutet und geplündert, über Jahrtausende. Der Kolonialismus ist kein Schauermärchen, sondern historische Tatsache. Geschichte ist nichts wert, wenn ihre Kapitel keinen Erkenntnisgewinn über das Datum hinaus erzielen.
Den tapferen politisch korrekten Kämpfer moralischer Integrität und kultureller Sensitivität hält Balzer schonungslos den Spiegel vor, dass sie in ihrem Gefecht für Diversität und Toleranz, tatsächlich aber eine widersprüchliche Vision kultureller Homogenität skizzieren. In ihrer Logik müssten Kulturen in sich geschlossene Entitäten sein, die über Jahrtausende unberührt blieben, ehe weiße Eroberer sie unterwarfen. Das ist nicht nur historisch falsch, noch weniger stützt es die Forderung diesen nicht existenten Status zu konservieren.
Appropriation & counter appropriation
Balzer leitet diesen Vermittlungsversuch sehr gut und dicht argumentiert aus der US-amerikanischen Musikgeschichte her. Er illustriert ein Wechselspiel von appropriation und counter appropriation: Weiße Künstler, angefangen bei Thomas D. Rice im 19. Jahrhundert, bis hin zu Elvis Presley im Jahrhundert zuvor entlehnten nachweislich Elemente afroamerikanischer Musik oder schlüpften, im Falle von Rice, in parodistische Charakter-Rollen. Das könne einerseits als »Akt der Befreiung« aus gesellschaftlichen und musikalischen Konventionen gedeutet werden, andererseits war es jedoch ebenso Geschäftskonzept und Erfolgsrezept auf Kosten (im Sinne der öffentlichen Verhöhnung) der schwarzen Urheber.
»So verwandelt sich Aneignung in Enteignung. […] Die Weißen wollen alles von den Schwarzen, ihre Kultur, ihre Mode, ihre Coolness – nur die Last, die dürfen die Schwarzen gerne behalten, die Bürde des Rassismus und der Diskriminierung.«
Im Hip-Hop der späten 80er- und 90er-Jahre liest Balzer hingegen eine counter appropriation, sodass das Genre anfangs »selber noch eine Form kultureller Aneignung« gewesen sei. Gruppen wir Public Enemy bedienten sich in sogenannten Samples einer Zitate aus bekannten Stücken des Jazzs und des Rock n‘ Roll, eben jene Werke, die zuvor appropriierten. Diese neue Kunstform sei sowohl der Versuch gewesen »etwas aufzuheben und zu bewahren« und gleichermaßen ein Versuch der Schöpfung »einer neuen Tradition«, einer grenzenlosen »kulturellen Sprache« und »unverrückbaren Kollektividentität«.
(Dass mit dieser counter appropriation ebenfalls Profit erzielt wurde – die Alben von Public Enemy wurden millionenfach verkauft – thematisiert Balzer nicht.)
Nichtsdestotrotz: Dieses Spiel von gegenseitiger Aneignung macht es – bei aller historischer Ungerechtigkeit – schwer, Appropriation grundlegend als Unrecht zu verurteilen, geschweige denn zu verbieten. Kulturen seien immer Mischformen, die es schwer machen, Besitzverhältnisse zu definieren und sie aus ihren Grenzen zu abstrahieren. Die entscheidende Erkenntnis ist daher vielmehr, »dass es kein Zurück hinter diesen Zustand der Entwurzelung gibt.«
»Gute Appropriation« & »schlechte Appropriation«
Daraus leitet Balzer unter Berufung auf Soziologen wie Paul Gilroy und Edouard Glissant erste Leitsätze für seine Ethik ab: So müsse »gute Appropriation« stets erfinderisch und schöpferisch sein. Sie überwinde, infrage stellen, herausfordern, durchbrechen. »Schlechte Appropriation« würde hingegen Kulturen und die dahinterliegenden Machtverhältnisse verfestigen – auch indem z. B. Appropriation unterbunden wird.
Wo liegt nur die Grenze, die definiert, welche Form »durchbricht« und welche »diskriminiert«? Die counter appropriation sei ein gelungenes Beispiel, um beiden Argumentationen gerecht zu werden. Balzer führt noch ein weiteres ins Feld, das vor allem dabei hilft, im Streit um die Kostümierung als »Indianer« weiterzukommen: die Kunstform des »Drag«.
Balzer erkennt besonders im Nacheifern einer Figur wie Winnetou oder die kindliche Verkleidung mit Federschmuck, langem schwarzen Haar und Kriegsbemalung im Gesicht ein Spiel mit Geschlechteridentitäten: der »Indianerhäuptling« als transgeschlechtliches Experiment, als eine Appropriation, die vielmehr mit einer Identität experimentiert als ausbeutet.
Diese Perspektive entwaffnet die Hypersensibilität der Verbotsadvokaten gegenüber Aneignung auf gleich zwei Feldern: Ethnie und Geschlecht. Die Betrachtung in diesem Korridor zwischen den beiden Komponenten der Kunstfigur zu führen, dort, wo die Bewertung undeutlich wird, demonstriert sehr gut die vorgeschlagene Praxis einer »guten Appropriation«: Sie durchbricht eingefahrene Perspektiven.
Das Experimentieren ist eine wertvolle weil praktische Handreichung Balzers, die zugleich aber auch aufzeigt, woran die gängige und handelsübliche Kostümierung des »Indianers« scheitert: Es mangele ihr an Authentizität. Es ist lediglich der Versuch des Authentischen, von etwas, dass es gar nicht so gebe. Es imitiert eine nicht-existente Figur – wenn wir ehrlich sind, wird sie sogar konfektioniert – statt ihr eigentliches Abbild herauszufordern. »Wer wirklich zum Indianer werden will, muss den Indianer sogar hinter sich lassen.«
Ethik ist kein Kinderspiel
So schafft es Balzer in seiner Ethik (leider) doch nicht, dem Kostümspiel wieder eine Leichtigkeit zu geben. Die teils absurde Akademisierung von kindlichem Kostümspiel, wie sie in Kanada vorangetrieben wurde, kann er schließlich nicht gänzlich entschärfen, kommt er nicht umhin, die Begriffe des Reflektierens und der Dialektik als elementare Bestandteile dieser seiner Ethik zu identifizieren – und das nachvollziehbar, denn:
»Gutes, reflektiertes, kritisches Appropriieren denkt immer Machtverhältnisse mit.«
Das Verdienst seines Essays besteht eher darin, der Debatte die Absolutheit zu nehmen, die kompromisslosen Argumentationscodes von Kritik und Untersagung, Verbot und Verbrechen zu entkräften.
Als Gegenentwurf fordert er sogar ein »Gebot« des »richtigen Appropriierens«, gebe es schließlich kein »Außerhalb der Appropriation«. Er hat einem freiheitlichen, liberalen Kulturbegriff Vorschub gegeben und Raum zu Atmen verschafft. Das alles aber zum (zugegeben fairen) Preis, die Debatte dadurch weiter zu öffnen und in der Praxis noch mehr vom einzelnen abzuverlangen, um seiner Ethik der Appropriation zu folgen.
Diese wird nichtsdestotrotz niemandem die Kritik und das Beklagen aus den Kreisen der hypersensiblen Verbotsadvokaten ersparen. Vielleicht aber wird sie den blinden Parodisten und Nachahmern ohne Feingefühl die Augen öffnen und eine Spur gesellschaftliches Taktgefühl abringen, bevor sie sich gedankenlos kostümieren. Eine praktische Zauberformel für unfallfreies Kostümieren wäre auch eine falsche Erwartung, war Balzers Anliegen ein anderes. Seine »Ethik der Appropriation« ist eine Handreichung in beide Richtungen, die wie ich finde nicht unerfolgreich »das Fremde im Eigenen freudig umarmt – und der die Solidarität im Diversen wichtiger ist als der Kampf alle gegen alle.«