Was meine ich damit, dass die eigene Stimme überlebenswichtig ist? Das Verhältnis zu ihr ist kein Nullsummenspiel, haben oder nicht haben. Sie ist ein Bewusstwerden davon, wie schwer der Verlust der eigenen Stimme wiegen und wie wertvoll Leichtigkeit in der Stimme zugleich sein kann.

„Glück ist leicht“ – behauptete zumindest Roger Cicero in seinem gleichnamigen Song aus dem Jahr 2014. Leicht seien vor allem die kleinen Glücksmomenten, weil sie Dir im Grunde nichts abverlangen, außer sie zu erkennen und manchmal auch nur geschehen zu lassen. Zum Beispiel: 

„Eine Melodie, die sich von selber singt.“

Ist es so einfach? Ich habe meine Zweifel. Wer verstehen will, was ich mit der eigenen Stimme meine und warum sie für ein Leben enorm wichtig ist, muss nach der Leichtigkeit erst suchen:

Ich habe vor ein paar Jahren angefangen, Gesangsunterricht zu nehmen. Es war so ziemlich das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich Musik lernte, machte, liebte. Je mehr ich im Gesang meine Stimme kennenlernte, desto bewusster spürte ich, wann immer sie mir versagt, die Melodie sich nicht von selber singt, bin ich sprachlos gegenüber dem Schönen.

Warum? Die Diagnose ist in meinem Fall ziemlich einfach: Ich habe Depressionen. Das Leben führe ich schon lange und immer wieder im erdrückenden, manchmal bedrohlichen, Decrescendo. Das heißt?

Schwierig. Ein Versuch, es annähernd zu schildern: Selbst bei dem, was liebe, sitzt in meinem Kopf ein drangsalierender Bandleiter Terence Fletcher, wie im Film Whiplash (2014), der nach ein paar Takten mit der Hand schwingt. Die Musik stoppt. Ich höre nur noch die letzten Ausklänge der Melodie und erinnere mich, wie schön sie doch eigentlich sein kann. Wann immer ich dann wieder ansetze – Stopp! Irgendwas passt nicht – „Not quite my tempo“. Immer und immer wieder. Und ich kann nichts erwidern. Das geht so lange, bis im Kopf irgendwann ein Stuhl fliegt. 

https://www.youtube.com/watch?v=xDAsABdkWSc

Für mich sind die einfachen Dinge nicht leicht, sie erreichen sogar regelmäßig die Tragweite einer Katastrophe. Dabei geht es nicht nur um die Musik und ob es in der Kopfstimme enger wird als gewohnt. Es geht um noch Banaleres, wie zu entscheiden, wo ich mir einen Kaffee hole oder was ich im Supermarkt zum Abendessen einkaufe. 

Kurt Krömer kann davon auch ein Lied singen.

Stell Dir vor, Du stehst im Supermarkt und kannst nicht sagen, was du denn nun eigentlich aus den picke-packe-vollen Regalen greifen sollst. Einkaufen wird zu einer unlösbaren Aufgabe. Ich laufe durch die Stadt, vorbei an mindestens einem Dutzend Cafés, keines kann ich betreten – aus absolut unbekannten Gründen, die das Argument „Ich hab‘ Bock auf Kaffee!“ schlagen. Irgendwas passt einfach nicht: „Da stehen noch andere Kunden in der Schlange. Das willst Du dir nicht antun.“ Oder: „Es gibt sicher noch bessere Läden. Die darfst auf keinen Fall Du nicht versäumen, sonst ärgerst Du dich weiß Gott wie lange.“ – Da ist er, der Fletcher: „Again, not quite my tempo.“ Keine Widerworte. 

Dabei ist es die einfachste Melodie. Das Schöne in der Welt nicht einmal benennen zu müssen, sondern nur (er-)leben. Einfach mal machen, passieren lassen, Kaffee trinken.

Daran hindert nicht erst eine Depression. Es kann schon der Umgang und das innere Verhältnis zu grundlegenden Impulsen, wie z. B. Genuss, einen Hinweis darauf geben, dass die eigene Stimme gerade verloren geht. Ganz ohne Erkrankung. Denn es macht das Leben schon verdammt schwer verdaulich, wenn Du durch die schönste Stadt spazierst ohne guten Kaffee in der Hand. Dabei ist er (in der Regel) nicht fern.

Frage Dich also jetzt einfach mal: Worauf habe ich gerade Bock? Worüber freue ich mich jetzt in diesem Moment? 

Fällt die Antwort leicht? Hier reden wir noch über Kaffee. Sprechen wir mal über Karriere. 

„Nie die Lust aus den Augen verlieren“

…betitelte Ulrich Wickert seine Textsammlung (2017), ganz getreu seinem Motto, dass er im Proust’sche Fragebogen angab. Es ist sein Aufruf zur Leichtigkeit und zugleich fordert er einen klaren Blick auf die eigenen Wünsche und Ziele. 

In einem seiner Texte schrieb er unter anderem auch über eine weitverbreitete Orientierungslosigkeit junger Menschen. Seine These: Der Verfall eines Wertegerüsts und die Erosion fester gesellschaftlicher Institutionen wie Familie oder Glauben hätten ein bedrückendes Vakuum geschaffen.

Mein Blick darauf: In einer Welt voller Möglichkeiten wird das geglaubte Unvermögen zum existenziellen Problem. Die Leichtigkeit der unbeschwerten und sorglosen Spinnerei, mit der Kinder auf die Frage „Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?“ antworten, wird bei jungen Erwachsenen mit der Schwere ersetzt: Was kann ich? Wer bin ich? Wer will ich sein? 

Was Ulrich Wickert beobachtet und versucht zu beschreiben, verpacken andere ins Neudeutsch: Quarterlife Crisis. Klingt für mich leicht ironisch: Wo Fünfzigjährige sich midlife noch einmal jung fühlen wollen, drehen Mittzwanzigjährige am Rad, weil sie noch zu viel Lebenszeit haben, gefühlt aber zu wenig, um all das zu sein, was sie sein könnten. 

Ein „Modeetikett für eine reales Problem“: Das bedrückende Gefühl, Identität bedeute sich „über die Arbeit zu definieren“ (Zessnik). Dabei könne Arbeit keine „Lebensfragen beantworten“, meinte Roger Willemsen (Wer wir waren, 2016). Die damit verbundene Frage („Was will ich einmal werden?“) ist die erste, der es auszuweichen gilt. Das fällt zunehmend leichter, bieten andere Ordnungen in vielfältiger Weise Unterschlupf. Menschen werden heute nicht mehr Metzger, sondern Veganer. 

Das Angebot an Lebenswegen, Einstellungen und Wertegerüsten ist unvorstellbar groß. So unvorstellbar, dass Roger Willemsen zur Schlussfolgerung gelangte, Zukunft werde „einstweilen weniger imaginiert als vielmehr organisiert. […] Freizeit, Faulheit, Prokrastination […], alles wird Wissenschaft, wird Kompetenz, wird Arbeit“.

Himmelträumer Hanns Guck-in-die-Luft hätte heute ein Schleudertrauma. Er wüsste nicht, wo er überall hingucken sollte, um sich seinen Gedanken hinzugeben und sie zu ordnen. Bot der reizarme Himmel noch ausreichend Spielraum, das Risiko mit einem unfreiwilligen Bad im Hafenbecken überschaubar bis erfrischend, flimmern einem heute die Augen von der kontinuierlichen Selbstrechtfertigung. Die einzige Aussicht dabei: Die eigene Stimme überschlägt sich mehrfach oder kommt komplett zum Erliegen. 

„Der Moment, in dem Du siehst, um zu wachsen, musst Du manchmal auch verlieren. […]“

Es spricht Bände, warum viele entweder resignieren, verstummen und die Niederlage damit vermeintlich amtlich machen, oder diese danach gänzlich falsch einsetzen und umso lauter persönliche, biographische Niederlagen als Treibstoff verkaufen. Ein Beispiel:

Ein Kommilitone, den ich im zweiten Semester kennenlernte – ein Student an einer guten Universität mit Chance und Aussicht auf einen akademischen Abschluss – erklärte mir einst mit einem leicht aufgesetzten Ton von „Ihr-könnt-mir-gar-nichts“ in der Stimme, warum sein Leben mit Migrationshintergrund schon jetzt grundsätzlich schlecht und ohne Chance verlaufen wird, denn er sei, und werde es wohl immer bleiben, Opfer struktureller Ungerechtigkeiten. 

Das Problem: Während andere sie sich mühselig erarbeiten, hat er sich die Lebenskrise schon selbst verordnet. Er beantwortet die Frage „Wer will ich sein?“ mit der simpelsten Antwort auf die Frage „Wer kann ich nicht werden?“. So gut begründet seine Empfindung ist: Sein Ansatz ist nicht, den eigenen Weg, den er gegangen ist und der sicherlich nicht leicht gewesen ist, als Antrieb zu nutzen, sondern dem vermeintlich verbauten Weg hinterherzuschmollen. 

Das leichte Glück hat er verfehlt, er ist ihm geradezu ausgewichen, weil das schwere Unglück die leichtere Erklärung liefert. Dass er gewachsen ist, hat mein Kommilitone nicht bemerkt oder sieht es mit dieser Haltung nicht als Gewinn, sondern als Last. Die Leichtigkeit, die er sucht, liegt im fremdverschuldeten Unglück. Macht Sinn: Wenn andere die Verantwortung in der Vergangenheit tragen, muss er in Zukunft keine übernehmen. Seinen Platz in der Welt findet er in der Niederlage. 

Und tatsächlich in der Politik: Er engagiert sich mit derselben Vehemenz heute dafür, dass strukturelle Ungerechtigkeit beendet wird. Sein Antrieb ist die Revanche, nicht die Herausforderung. Nach Leichtigkeit klingt das aber immer noch nicht.

“My Funny Valentine” von Miles

Wo ist sie dann, die Leichtigkeit? Roger Cicero findet sie zum Beispiel im Jazz von Miles Davis aus dem Jahr 1964, wenngleich nicht aus politischer Motivation, sondern aus Liebe zur Musik. Jazz spendet hier Leichtigkeit und an anderer Stelle obendrein noch Orientierung. 

Der Pianist Novecento aus Alessandro Boriccos gleichnamiger Erzählung (1994) findet sie auf der Tastatur seines Klaviers. Diese will er gegen nichts in der Welt eintauschen. So verlässt er das Kreuzfahrtschiff Virginian, auf dem er 1900 (daher stammt sein Name) geboren wurde, als Waise aufwuchs und bis zum Ende lebte, nicht ein einziges Mal. Er bricht mit der Bestimmtheit dieser Erkenntnis für sich den einzigen nennenswerten „Versuch“ von Bord zu gehen, um das Meer von Land aus zu sehen, auf der zweiten Stufe der Treppe ab: „Alles war da / Nur kein Ende.“

Anders sein Piano: „Die Tasten fangen an, die Tasten hören auf. Du weißt, es sind achtundachtzig, daran ist nicht zu rütteln.“ Draußen dagegen: „Millionen und Milliarden Tasten, die nie enden, und das ist die wahre Wahrheit, daß sie nie enden und jene Tastatur unendlich ist.“ 

Novecento findet seine Stimme auf achtundachtzig Tasten – und wächst (der Legende nach), die Welt bereisend, zum weltbesten Pianisten heran, ohne diese je jenseits des Decks gesehen zu haben. Woran er das merkt: Die Leichtigkeit, mit der er über die Tasten fliegt, fehlt ihm in seinem Schritt von Bord. 

Jazz als Emanzipation von der Schwere der Welt? Hier der Einsatz von Miles Davis: 

My Funny Valentine war nichts anderes als Widerstand. Davis spielte gegen Unterdrückung: Der Song wurde am 12. Februar 1964 in der Philharmonic Hall des Lincoln Centers in Philadelphia aufgenommen, wo zu diesem Anlass Spenden für Bürgerrechtsorganisationen gesammelt wurden, wie z. B: für das NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) und ihren Einsatz für die Wählerregistrierung von People of Color in Louisiana und Mississippi.Jazz spielen, um anderen eine Stimme zu geben: Die elfminütige Aufnahme von My Funny Valentine ist eine reine Bandperformance ohne Gesang. Miles Davis pflichtete aber seiner Musik nicht selten und ohne vorgehaltene Hand bei, indem er seine Überzeugungen und seinen Standpunkt sehr deutlich artikulierte. Sein Sound in der Frage über die Stellung von People of Color in Musik und Gesellschaft lässt sich z. B. in seiner Autobiographie sehr gut heraushören:

“I wasn’t going to do it just so that some non-playing, racist, white motherfucker could write some nice things about me. Naw, I wasn’t going to sell out my principles for them. I wanted to be accepted as a good musician and that didn’t call for no grinning, but just being able to play the horn good.”

aus Miles: The Autobiography. (Davis/Troupe, 1990), S. 84

Das Grinsen (grinning) für das Pläsir des Publikums, das Louis Armstrong abverlangt wurde und bis heute sein Bild in den Geschichtsbüchern zeichnet, war nach Ansicht von Davis nichts anderes als stumme Entmündigung: Sprachlos werden hinter einem falschen Grinsen für die Ansprüche der Industrie, der Produzenten und Rezipienten. Dem setzte Miles Davis auf der Bühne einen weichen Jazz-Sound und einen harten politischen Ton entgegen. 

„Du kannst es anschreien und verfluchen, und verzweifelt nach ihm suchen; Wenn du es erzwingen willst, dann bleibt es unerreicht.“

Verstummen ist der letzte Takt vor stumm bleiben. Wer stumm wird, leistet dem Gefühl der Wert- und Bedeutungslosigkeit Vorschub auf seinem Weg zur self-fulfilling prophecy. Kurzum: Ohne die eigene Stimme ist Glück nicht leicht, das Leben schwergängig. 

Und wie die nötige Leichtigkeit finden? (Nicht) ganz leicht: Leichtigkeit finden heißt, die eigene Stimme finden – und umgekehrt. Ein gesundes Stimmenleben muss leicht sein. Ein Rezept kann sein: ganz genau hinhören. Nur wo? Die Leichtigkeit im Jazz oder auch in der Musik befindet sich also im Klangraum, den sie für die eigene Stimme liefert, um sich frei und zwanglos auszudrücken. Leichtigkeit kann auch in der persönlichen Resignation vorgegaukelt, aber erst tatsächlich in der positiven Übersetzung der Niederlage in Antrieb und Leidenschaft gefunden werden. Wertegerüste bieten vermeintlich leichte Antworten an, die wertlos sind, wenn sie die falschen Fragen beantworten. Sie können z. B. die Frage nach „Kaffee – ja oder nein, und wenn ja, wo?“ nicht beantworten. Dort ist die ursprüngliche Leichtigkeit verankert: Wenn die Antworten auf die leichten Fragen im Leben leichtfallen. Dann ist für ein intaktes Stimmenleben schon viel erreicht.