»Wild« ist in der finalen Auswahl zum Jugendwort des Jahres. Diese Auszeichnung wäre in meinen Augen eigentlich keine Notiz wert, die Vokabel setzt jedoch eine seltsam aktuelle und erstaunlich unprätentiöse Pointe und Überschrift für unsere Zeit. Die USA ist uns in diesem wilden Galopp wieder einmal ein paar Schritte voraus.

Stimmen und Gedanken dazu …

»Will Be Wild«

Am 19. Dezember 2020, nach seiner Wahlniederlage gegen Joe Biden, kündigte Donald Trump über Twitter (damals durfte er noch twittern) einen großen Protest am 6. Januar 2021 in Washington D. C. an. An diesem Tag sollte der Kongress eigentlich das amtliche Wahlergebnis ratifizieren. Trump zu seinen Anhängern: »Be there. Will be wild!«

Der Podcast »Will Be Wild« (produziert von Wondery, Pineapple Studios und Amazon) hat sich dieses Zitat als Titel zu eigen gemacht, um die größere Geschichte hinter diesem 6. Januar zu erzählen und die vielen verschiedenen Hintergründe aufzuarbeiten – und welche Rolle Trump bei der bewaffneten Kapitol-Erstürmung durch seine Anhänger spielte.

Der Podcast beleuchtet nicht allein, wer an diesem Tag dort war, wer bereit war, Menschen zu töten, um Trump an der Macht zu halten und was sich zutrug an den Eingängen zum Kapitol (Videomaterial über die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Tunnel gibt es ja bereits reichlich). Dieses Storytelling-Format wirft die Frage auf, wie diese nationalistisch motivierte Gewalt unter den Trump-Anhängern zuvor schon lange unbemerkt in amerikanischen Haushalten schwelte, bereit jederzeit zu detonieren? Warum war den Bundesbehörden die Gefahr zuvor bewusst, aber dennoch untätig an diesem Tag? Und was brachten die anschließenden Ermittlungen des eingesetzten »January 6 Committee«?

Der Wahnsinn in den USA bekommt in diesem Podcast viele Schattierungen. Trumps Tweet spielt dabei bis heute eine wichtige Rolle in allen Untersuchungen, Berichterstattungen und (persönlichen) Verurteilungen. Ungefähr genauso wichtig wie sein expliziter Aufruf zum Kampf (»If you don’t fight like hell, you are not going to have a country anymore.«) live bei besagtem »Protest« in Washington D. C. am 6. Januar. Es wurde wild und ja, die Hölle brach los.

Das Format skizziert sehr gut die Lage inmitten von Verschwörungserzählungen, Radikalisierung und Polarisierung – und damit ungewollt auch, wie sich Aufarbeitungen wie diese am Ende nur um sich selbst drehen. Die Wirkungskraft des Podcast endet (leider) im Infotainment für bereits überzeugte Trump-Gegner. Trump-Fanatiker wird auch dieses Format nicht überzeugen, dafür hat ihr Anführer sie zu tief in einen Kaninchenbau von Lügen und Verschwörungserzählungen geführt. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen in »Will Be Wild« dürfte sein: »You can’t fight disinformation with truth«, oder in den Worten des (Ex-)Bundesbeamten und Republikaners Chris Krebs:

»We’ve lost the narrative. […] It was to have the rational thinkers lose the ability to understand what the truth is, to doubt the system and to cause chaos. […] This is a departure from democratic ideals. This is a party [the Republicans, Anm. d. Verf.] that is being overrun by those that are apparently pretty damn cool with authoritarianism and autocracy. How did we get here?!«

Chris Krebs, in »Will Be wild«, Episode 6
Will Be Wild Podcast Cover © Wondery

»Die amerikanische Herausforderung«

Die Überwindung von Fakten dürfte die größte Niederlage einer zurückliegenden Zeit der Errungenschaften sein. Nirgendwo so schmerzhaft wie in den USA. Pessimistisch ausgedrückt dürfte die Aufgabe, diese neue Zeit der Desinformation ohne politische Katastrophe (wie auch immer geartet) zu überleben, »die amerikanische Herausforderung« der kommenden Zeit sein. Das dürfte auch für die gelten, die sich in den letzten Jahrzehnten bis heute auf die USA verlassen haben.

Als der Journalist und Essayist Jean-Jacques Servan-Schieber diesen Titel 1968 wählte, hatte er einen ähnlichen Gedanken. Europa sollte sich dafür rüsten, was aus den USA kam. Es war fast schon gruselig, als ich das Kapitel »Das Amerika von morgen« aufblätterte: Servan-Schreiber beschrieb präzise den technologischen Fortschritt ins Computerzeitalter beinahe als selbstverständliche, offenkundige Konsequenz. Sein Blick fokussierte vor allem die unmittelbare Zukunft, das Jahr 1980 als letzten Checkpoint vor der Jahrtausendwende:

»[…] [D]ie zweite industrielle Revolution, der der Computer seinen Stempel aufdrücken wird, wird das Zusammenwirken von intellektuellem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum, von Denken und Macht sein.«

Jean-Jacques Servan-Schreiber, in »Die amerikanische Herausforderung , Seite 99

Über diesen Punkt auf dem Zeitstrahl sind die USA und die Welt nun schon über 40 Jahre hinaus. Auch in der Sache haben wir diese verblüffende wie gruselig präzise Weitsicht schon längst überdauert. Gerade deswegen ist diese Einschätzung für die heutige Bewertung Amerikas so relevant:

Die Trends von »Urbanisierung, Automatisierung der Industrie und Revolution im Informationswesen«, wie sie Servan-Schreiber ersann, liegen nicht nur bereits in der Vergangenheit. Sie sind heute schon in neuem Ausmaß fragmentiert und haben sich verselbstständigt, um neue Probleme aufzuwerfen:

Die Städte sind noch überfüllter, sodass urbanes Leben noch weniger Menschen zusammenführt, dafür umso mehr finanziell segregiert. Maschinen verändern nicht mehr die Lohnarbeit, sie steht kurz davor, sie tatsächlich überflüssig zu machen. Wir reden nicht mehr von Computern, die wir bedienen, sondern von künstlicher Intelligenz, die in der Lage sein wird, sich menschlicher Kontrolle zu entziehen, sich emanzipiert. Wir lernen nicht mehr selektiv-interessiert und konzentriert, wir konsumieren Informationen exzessiv-manipulativ und passiv.

Die Welt befindet sich schon in der nächsten Umwälzung und muss zeitgleich mit den Konsequenzen und Versäumnissen dieser schon bereits vergangenen industriellen Revolution umgehen. So sehr die USA von der »zweiten industriellen Revolution« bis in die 2000er profitiert hat, haben diese Dynamiken die Realität für viele Menschen von Denken und Macht emanzipiert, sie machtlos werden lassen.

Ich glaube, darin liegt der »Erfolg« von Desinformation heute. Heute ordnet für viele Menschen das Gefühl die Realität, weil der Eindruck sich erhärtete, dass »die Mächtigen« viel zu lange das Denken von ihnen entkoppelt haben, versuchten, Bedenken haltlos werden zu lassen, statt ihnen Halt zu geben. Wir erleben die Zeit des backlashs, wo jene zurückschlagen, die im Tempo der Revolution nicht mitgedacht wurden, während sich ihre bisherige überschaubare aber glücklichere Wirklichkeit von Lohnarbeit, Eigentum und geteilten Patriotismus auflöste. Sie wurden sogar mit ihren Vorstellungen als störend empfunden für die, die das Denken mittlerweile (fast schon ignorant) in einer so realitätsfernen Ableitung praktizieren, dass es nur noch Selbstzweck statt des gewünschten Gemeinsinnes hervorbringt.

Die Entkoppelten scheinen sich über Jahre in einem neuen Raum zusammengefunden und eingerichtet, in dem die eigenen Bedenken Halt finden, Fakt sein dürfen und wo gemeinsam einer untergegangen Wirklichkeit nachgetrauert wird. Diese nun organisierte Gemeinschaft der Entkoppelten hat sich aus dieser Deckung dieser konservativen Wunschrealität gewagt, um sich zu rächen und wieder Kontrolle über die Wirklichkeit zu erlangen. Erst als 2016 Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, wurde wohl einhellig erkannt, dass der American Dream schon lange nicht mehr existiert – und jahrelang niemand es für nötig hielt, die Träumer darauf vorzubereiten.

»Aber jetzt muß die amerikanische Nation Abschied von ihrer Utopie nehmen. Soll sie als wirklichkeitsarme Ideologie noch aufrechterhalten werden, kann sie leicht zur kollektiven Lebenslüge entarten.«

Herbert von borch, zitiert im SPIEGEL 12/1961

»Das amerikanische Staatsgefüge ist auf seltsame Weise porös.«

Das schrieb der Soziologe und Journalist Herbert von Borch in seinem Buch »Amerika – Die unfertige Gesellschaft« – wohlgemerkt schon im Jahr 1961! Es muss noch aus dem Bestand meines Großvaters stammen, schreibt von Borch eigentlich über eine Zeit, wo der US-Präsident noch John F. Kennedy hieß. Dennoch, wie schon Servan-Schiebers Ausführungen, hielt auch dieses Buch eine ganze Reihe an gruseligen Déjà-vus bereit, als ich es dieser Tage direkt daneben in meinem Bücherregal entdeckte und darin blätterte:

Von Borch war lange Zeit für deutsche Tageszeitungen wie die FAZ oder DIE WELT in Washington D. C. tätig, sodass er damals vom SPIEGEL in einer Kurzrezension zum Buch nicht unbegründet als »einer der gescheitesten Beobachter der amerikanischen Szene« gepriesen wurde.

Das Kurzresümee von damals trug von Borch eine Schlussfolgerung an, die – hätte er sie heute so formuliert – wohl als astreine Verschwörungserzählung unter QAnon- und Trump-Anhängern taugen würde. So sei von Borch davon überzeugt gewesen, dass eine »Machtelite« aus »Außenpolitikern, Militärs und Wirtschaftsführern« die USA regieren. Diese verfolgen jedoch keinen teuflischen Plan, das Land zum eigenen Vorteil ausbeuten und korrumpieren, wie es z. B. Trump und andere Rechtskonservative den »korrupten Eliten« ohne belastbare Beweise vorwirft. Nein, von Borch dürfte wohl Dankbarkeit für diese Gruppe empfunden haben, da in seinen Augen allein diese Gruppe der Mächtigen, damals das Land in seinem konstitutionellen, demokratischen inneren Chaos auf Kurs hielten.

Das ist insofern bemerkenswert, dass wir ein solches inneres Chaos der USA heute live und in Farbe beobachten können. Es hat sich in den vergangenen Jahren bahngebrochen, der Sturm auf das Kapitol bisher wohl das eindrücklichste Schlachtfeld in seinen Bildern. Wer sich die Bilder von bewaffneten Trump-Anhängern anschaut, die versuchen Polizisten mit Gewalt zu überrennen, um ins Innere des Kapitols zu strömen, um den geregelten demokratischen Prozess zu unterbinden, dem muss es bei von Borchs Worten doppelt schaudern, wie ein Land sich selbst so missverstehen kann: Ein Mob in den Gängen des Parlaments war nicht die Intention als die Gründungsväter »eine poröse Struktur, den Staat als durchlässiges Gehäuse errichten« wollten, »durch die die agonalen Kräfte der Gesellschaft unaufhörlich frei fließen.«

Dieses urtypische konstitutionelle Chaos, eine grundlegende »Machtfeindschaft« der US-Amerikaner, von der von Borch schreibt, liegt seiner Ansicht nach bereits in den Grundfesten der amerikanischen Demokratie verankert. Die Feindschaft sei inspiriert »abwechselnd von dem [sic!] Abscheu gegen jede zusammengeballte Macht an der Spitze und von der Furcht vor der Macht radikaler Volksmehrheiten beherrscht« zu werden. Klingt vertraut, oder? Die USA seien auf einem seltsamen und wohl einzigartigen Kompromiss gegründet, mit dem Anspruch »das Land regierungsfähig zu machen wie das Regieren zu erschweren«, so von Borch. Der Dualismus von zwei großen, immer streitenden Parteien kam also nicht von ungefähr.

Mit Blick auf die vergangenen, wie auch auf die bevorstehenden Midterm-Wahlen zum amerikanischen Kongress haben sich anscheinend beide politischen Kräfte seit Barack Obamas Wahl zum Präsidenten (Mitch McConnell, nach den Midterms 2010: »[…] our top political priority over the next two years should be to deny President Obama a second term.«) – die auch die tiefste irrationale Wut des Republikaners gegen progressives Denken eruptieren ließ – stillschweigend darauf geeinigt, diesen wackeligen Kompromiss ganz aufzulösen und sich auf gegenseitige Blockade und Sabotage von Regierungshandeln zu verständigen.

Kein Kandidat scheint noch dafür zu kandidieren, in seinen Ideen bipartisanship, die Einigung unter politischen Kräften, anzustreben. Die, die es tun, gelten als Verräter. Liz Cheney beteuerte noch ihr Bekenntnis zur Notwendigkeit von Kompromissen zwischen den Parteien in ihrem opening statement bei den Anhörungen des »January 6 Committee« Anfang Juni, welches den Sturm auf das Kapitol politisch aufarbeiten sollte. Sie wird dem Kongress aber nicht mehr angehören, verlor sie vor wenigen Tagen ihre Vorwahl krachend gegen die Trump treu ergebene Harriet Hageman, die u. a. die Verschwörung einer gestohlenen Wahl nachplappert.

Die Republikaner scheinen von Borchs Beobachtung, dass «Korruption und nicht Diktatur die größte Gefahr darstellt«, eigennützig in politisches Kapital für sich umzuwandeln. Die Angst vor »corrupt politicians« muss in den USA heute nicht mehr begründet werden, um »Wahrheit« zu werden. Das alles zu dem Preis, dafür die vermeintlich kleinere Gefahr einer konservativen »Diktatur« über Denken und Macht in den USA bereitwillig – zumindest als mögliche Konsequenz – in Kauf zu nehmen.

Auch hier behält von Borch auf seine Weise Recht: Die US-Gesellschaft ist bei aller Machtfeindschaft, ironischerweise »die machtbewussteste, ja machtsüchtigste der Welt.«

»There are those in this audience who thirst for power, but have no love or respect for what makes America great.«

Chairman Rep. bennie thompson bei der ersten sitzung des »january 6 committee«

Wild.

Diese unscheinbare Vokabel hätte – obwohl oder gerade weil die Welt jedes Jahr immer wilder, krasser und abgedrehter wird– dieses Jahr eine Auszeichnung verdient. Die Aufarbeitung von »January 6«, genauso wie die Gegenstände und Implikation von von Borchs oder Servan-Schreibers verblüffenden Diag- und Prognosen ca. 60 Jahren zuvor, sind schon außergewöhnlich intensiv und an vielen Stellen verrückt. Sie treffen für meinen Geschmack die Definition des Jugendwortes ziemlich präzise.

Ironischerweise war und ist der damals 74-jährige Donald Trump auf seine Weise mit seinem Tweet zum Propheten und Hiobsbotschafter für Wort und Zeit in einer schon immer poröseren Demokratie geworden. Sie bröckelt und nicht unwahrscheinlich wird sie langsam erodieren. Die innere, politische und konstitutionelle Verfassung der USA hätte sich den eigentlich überlebten Namen »Wild West« wieder verdient, hat es die »Umwälzungen«, die Servan-Schreibers voraussah, er- aber noch nicht überlebt. Die neuen Wirklichkeiten von Urbanisierung, Automatisierung und Information hat viele Amerikaner überrundet, sodass sie sich kollektiv von den Stabilisatoren wie »Denken und Macht« entfremdet haben.

Fremdes Denken und die Macht des Fremden sind das geteilte Feindbild, und Trump ist ein seltsam schriller Januskopf: Die Bewertung seiner Person teilt sich in vollumfänglicher Schuld oder Unschuld, in Staatsfeind und Heiland, in Ende der Demokratie und Anfang einer neuen (eigentlich aber längst vergangenen) Zeit. Sie ist ein Abziehbild des grundlegenden Dilemmas im Amerika der Gegenwart: Jeder erkennt eine Gefahr und will die Demokratie für sich allein und die eigenen Überzeugungen retten, aber immer zu dem Preis, den Andersdenkenden für diesen Zweck politisch und/oder sogar körperlich zu vernichten.

Yes, it‘s wild.